Am 9. November 1989 um 18.53 Uhr verlas SED-Politbüromitglied Günter Schabowski, auf der gerade eingeführten, täglichen Pressekonferenz – die vom DDR-Fernsehen und im Radio live übertragen wurde – eher beiläufig eine Meldung, die ihm Egon Krenz eine Stunde zuvor zugesteckt hatte. Bei dem, was der frisch ernannte Sekretär für Informationswesen des ZK der SED von einem zweiseitigen Papier ablas, handelte es sich um einen Beschluss des Ministerrates der DDR „zur Veränderung der Situation der ständigen Ausreise von DDR-Bürgern nach der BRD über die ČSSR“. Dieser sollte am kommenden Morgen, dem 10. November, um 4 Uhr in Kraft treten und die Ausreisewelle über Drittländer in die Bundesrepublik stoppen.
Bei der Beratung des Papiers im ZK der SED war Schabowski nicht anwesend. So verkündete er – ohne Kenntnisse der Details –, dass der Ministerrat der DDR „auf Empfehlung des Politbüros" eine Regelung beschlossen habe, die es „jedem Bürger der DDR" möglich mache, „über Grenzübergangspunkte der DDR auszureisen". Reiseanträge für „Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen – Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse – beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt. Die zuständigen Abteilungen Pass- und Meldewesen der Volkspolizeikreisämter (...) sind angewiesen, auch Visa zur ständigen Ausreise unverzüglich zu erteilen, ohne dass dafür noch geltende Voraussetzungen für eine ständige Ausreise vorliegen müssen." Die Ausreise in den Westen könne über alle Grenzübergangsstellen des Landes „zur BRD bzw. zu Berlin-West" erfolgen. Auf Nachfrage des „Bild"-Zeitungsreporters Peter Brinkmann, wann diese Bestimmung in Kraft trete, antwortete Schabowski konfus: „Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich.“ Die westlichen Nachrichtenagenturen hatten ihre Topmeldung! Zugleich begannen sie Schabowskis unpräzise Angaben „zu verdichten und einen eigenen Bedeutungszusammenhang zu konstruieren" (Hertie 2007, S. 149).
Die dpa setzte bereits wenige Minuten nach Ende der Pressekonferenz die Eilmeldung ab: „Von sofort an können DDR-Bürger direkt über alle Grenzstellen zwischen der DDR und der Bundesrepublik ausreisen." Daraufhin setzte ein Ansturm auf die Grenzübergänge zwischen Ost- und Westberlin ein, auf den die DDR-Grenzhüter in keiner Weise vorbereitet waren. Gegen 21.30 Uhr ließen sie an der Bornholmer Straße einzelne DDR-Bürger die Absperrungen passieren, um Druck aus der Situation zu nehmen. Doch was als „Ventillösung" (Harald Jäger) gedacht war, löste schon bald eine Flutwelle aus. Ihnen gegenüber standen lediglich 15 Grenzkontrolleure. Um 23.25 Uhr befahl ihr von seinen Vorgesetzten im Stich gelassener Befehlshaber dann in eigener Verantwortung, die Grenzschranken zu öffnen. Jubelnd strömten die Menschen nach Westberlin.
Die Öffnung weiterer Berliner Übergänge folgte im Minutenabstand. Nach Mitternacht öffneten auch die Kontrollpunkte im Berliner Umland ihre Sicherungssperren. „Die Grenztruppen haben in dieser Nacht für die SED kapituliert.“ (Manfred Wilke, in: LVZ, 3. November 2009)
(stark gekürzt zitiert aus Lindner, Bernd (2010): Die demokratische Revolution in der DDR 1989/90. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung
Klaus-Dieter und Eve Lehmkuhl, ein im Kreis Hagenow beheimatetes Ehepaar, das die aktuellen Sondermeldungen am heimischen Fernsehschirm verfolgt hatte, brach unverzüglich in Richtung Westgrenze auf. Als die Eheleute gegen Mitternacht am Elbberg in Boizenburg eintrafen, stießen sie bereits auf eine in Volksfeststimmung ausharrende Menge. Was daraufhin geschah, blieb unauslöschlich in ihrem Gedächtnis haften:
Dann kam einer von der Polizei und sagte, wir möchten doch nach Hause fahren. >Nee<, haben wir gesagt. >In Berlin gehen die Leute über die Grenze, und wir wollen es auch!< Dann hat einer das Radio angemacht: >Hier hören sie es doch.< […] Nun kamen zwei Offiziere und fingen an, wir sollten vernünftig sein, das geht nicht! >Nix<, haben wir gesagt, >wir wollen nur einmal rüber und zurück – was in Berlin möglich ist, das ist auch hier möglich!< So, nun fuhren sie wieder weg. Vielleicht 'ne halbe bis dreiviertel Stunde später kamen sie mit >nem Auto angejagd, guckten uns an: >Na Herrschaften, wenn es denn unbedingt sein muß — bitteschön.<
Ähnliche Szenen spielten sich nur wenige Kilometer davon entfernt an der Grenzübergangsstelle Zarrentin ab. Da die Grenzer die Durchfahrt verwehrten, riegelten die Wartenden kurz entschlossen die Transitstrecke in beiden Richtungen ab. Unterstützung erhielten sie von einem westdeutschen Trucker, der sein Fahrzeug quer auf die Fahrbahn stellte. Kurz nach 2.00 Uhr gaben die entnervten Kontrolleure nach und öffneten den Schlagbaum. Wie viele andere Bürger auch, so wollte sich Familie Maaß aus Albertinenhof (Kreis Hagenow) diese womöglich einmalige Gelegenheit auf keinen Fall entgehen lassen. Hier ein kurzer Auszug aus ihrem Bericht:
Wir wollten […] weiter, konnten aber nicht, weil wir erstmal Sekt trinken mußten. Wir lagen uns mit Leuten von drüben in den Armen […] und heulten wie kleine Kinder – vor Freude, daß die Grenze geöffnet ist. Nachher konnten wir weiterfahren. Wir sind dann noch in der Nacht nach Hamburg-Bergedorf zur Verwandtschaft hin. Als wir ankamen, sind die gleich erschrocken – die dachten, wir sind abgehauen. Da sagten wir: >[…] [W]ir wollen euch nur kurz besuchen, wir wollen wieder nach Hause. Die Grenzen sind offen.<
Anderentags bildeten sich vor den Dienststellen der Volkspolizei lange Schlangen. Mit Stand von 18.00 Uhr wurden in den Kreisämtern des Bezirkes Neubrandenburg 30.387 Vorsprachen zu Reiseangelegenheiten registriert und 18.345 Visaerteilungen für Privatreisen sowie 147 für ständige Ausreisen erteilt. Innerhalb von nur vier Tagen befand sich mehr als ein Drittel der Wohnbevölkerung des Bezirkes im Besitz des begehrten Stempels. Obwohl zusätzliche »Schleusentore« geöffnet wurden, um »der zweifellos größten Volksbewegung des Wendeherbstes – der Pilgerfahrt in den Westen« – Herr zu werden, kam es auf allen Transitstrecken zu kilometerlangen Staus. Auf zahlreichen Bahnhöfen herrschten chaotische Zustände. Trotz der Bereitstellung zusätzlicher Sonderzüge war es nicht möglich, alle Fahrgäste aufzunehmen, Um die teilweise maroden Straßen- und Schienenverbindungen zu entlasten, entschloss sich die Regierung am 13. November, die Ostsee für den Bootsverkehr freizugeben.
Im Zusammenhang mit dem einsetzenden Reiseverkehr war ein deutlicher Rückgang der Beteiligung an den Demonstrationen zu verzeichnen. Besonders augenfällig ließ das Interesse an den Demonstrationen in der grenznahen Kreisstadt Hagenow nach. Als sich am 9. November erstmals ein Demonstrationszug mit 8.000 Teilnehmern durch die Stadt begab, riefen Anwohner von ihren Fenstern und Balkons herab: »Ihr könnt aufhören, die Grenzen sind auf!«
Mit dem Abbau der Sperranlagen wurde bereits Ende November begonnen. Den Angaben des Schweriner Grenzbezirkskommandos zufolge sollte der aus Stacheldraht bestehende Signalteil des ca. 104 km langen Grenzabschnitts abgebaut und »volkswirtschaftlichen Zwecken« zugeführt werden[…,] z.B. die Verwendung von Betonteilen ehemaliger Wachttürme als Litfaßsäulen.
Trotz der einschneidenden politischen Veränderungen setzte sich der Massenexodus fort. So berichtete die »Schweriner Volkszeitung« in ihrer Ausgabe vom 15. November, dass seit dem Mauerfall 645 Einwohner des Bezirkes ihre ständige Ausreise beantragt hätten. Nach Angaben der Rostocker »Ostsee-Zeitung« beliefen sich die im Monat November registrierten Bevölkerungsverluste des Bezirkes auf 2.568 Personen.
(stark gekürzt zitiert aus Langer, Kai (1999): »Ihr sollt wissen, daß der Norden nicht schläft…«.Zur Geschichte der »Wende« in den drei Nordbezirken der DDR. Bremen: Edition Temmen)
Mit dem Fahrrad bricht Sylvia Ulfig auf - in eine neue Zeit. Sie erinnert sich an gemischte Gefühle, »ein kleines bisschen Bauchweh, ein bisschen Freude, ein bisschen Aufgeregtheit, ein bisschen Unsicherheit – aber es war auch überwältigend«, erzählt sie.
Am 12. November 1989 radelt Sylvia Ulfig aufrecht und kerzengerade über die Grenze, sie ist eine der Ersten auf ihrem Weg in den Westen an diesem Tag. Mit der rechten Hand winkt sie. Ihr ist nicht anzusehen, was für eine Radtour sie schon hinter sich hat – und vor sich. Sylvia Ulfig wohnt damals in dem kleinen Dorf Thandorf im Sperrgebiet, wenige Kilometer vom Ostufer des Ratzeburger Sees entfernt, Der See gehört schon zur Bundesrepublik Deutschland. Ihre Schwägerin kommt vorbei, erzählt, zwischen Roggendorf im Osten und Mustin im Westen soll ein neuer, provisorischer Grenzübergang eingerichtet werden, drei Tage zuvor ist die Mauer in Berlin gefallen. Die beiden Frauen haben kein Auto, aber das Wetter ist schön, sie ziehen sich warm an, »sind dann rauf aufs Fahrrad und losgefahren zum ersten Westbesuch«. Sylvia Ulfig lacht sich kringelig, »ich hatte ja keine Vorstellung davon gehabt, wie weit die Strecke wirklich ist! Das war nicht gerade um die Ecke, das war schon eine ganz schöne Radtour den Tag! Letztendlich ganz schön weit, und das mit der Kleinen mit ihren drei Jahren.« Von Thandorf bis Roggendorf/Mustin sind es gut und gerne 15 Kilometer. Bei Groß Molzahn werden die beiden Frauen mit Kind gestoppt – von einem Grenzposten. Sie dürfen nicht passieren. Die Straße soll frei bleiben, die Radler sollen über Dechow und Carlow fahren und sich ganz hinten einreihen auf der Straße zwischen Roggendorf und der Grenze, wo sich längst über Kilometer die Trabis stauen. Alle wollen an diesem Wochenende endlich in den Westen. Das bedeutet: ein weiterer Umweg von 15 Kilometern. Sylvia Ulfig erwägt, die Radtour abzubrechen, für ihre Tochter wird das zu weit, »aber plötzlich sagte dann der Grenzposten: >Na gut. Fahren Sie durch, aber sagen Sie niemandem, dass wir Ihnen das erlaubt haben.< Das war eigentlich an dem Tag auch schon egal. Und ein paar Fahrradfahrer [...], wir waren ja keine Autos!« Sylvia Ulfig lacht. Eine Familie aus Rehna kommt vorbei, ebenfalls auf dem Rad, »da waren auch die Kinder selbst mit dem Fahrrad unterwegs, von Rehna! Das ist ja noch weiter gewesen!« Unvergessen und ihr in das Gedächtnis eingebrannt ist Sylvia Ulfig das Bild, das sich ihr beim Überqueren des neuen, zunächst noch provisorischen Grenzübergangs hinter Roggendorf bietet, »wo rechts und links die Menschen standen, die Westdeutschen, die Begrüßung, wie herzlich die war. Die Leute jubelten, winkten, klopften einem im Vorbeifahren auf die Schulter, dann kullerten auch schon die Tränen bei mir. >Alles Gute, viel Spaß<, wurde gerufen bis dazu, dass mir fünf Mark zugesteckt wurden, >kaufen Sie der Kleinen was!<, mir hier 'ne Banane zugesteckt wurde [...], worüber man heute natürlich schmunzelt.« Durch eine schmale Gasse jubelnder Menschen radelt Sylvia Ulfig weiter in die Kleinstadt Ratzeburg, noch einmal fast zehn Kilometer. Sie schaut sich die Stadt an, das Kaufhaus am Markt, von dem Begrüßungsgeld, dass sie sich bei der Bank abholt, kauft sie eine einzige Sache: eine Hörspielkassette für die kleine Julia, »Heidi, sie liebte Heidi!«. Und schon geht es wieder auf das Rad und zurück nach Thandorf, ins » Sperrgebiet, in die gewandelte DDR.
(gekürzt zitiert aus Balzer, Thomas, Stippekohl, Siv (2015): Atlas des Aufbruchs. Geschichten aus 25 Jahren Mecklenburg-Vorpommern. Berlin: Ch. Links Verlag)
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